Den Augenblick des Lebens halten…

Warum mir ein sterbendes Reh zum Geschenk wird!

Neulich erst, auf dem Heimweg vom Yoga kommend, sehe ich im Abenddunkel Lichter auf der Straße von Autos, die stehen geblieben sind und bin gezwungen zu halten. Ein kleines Reh liegt schreiend auf der Straße. Ein Geräusch, welches durch und durch geht und jede meiner Zellen berührt. Puh! Es war kurz zuvor angefahren worden, als es wohl mit seiner Mutter die Straße überqueren wollte. Immer wieder sind wir im Odenwald damit konfrontiert, dass Tiere die Straße queren.

Die Hinterläufe scheinen gebrochen, ein wenig Blut tropft aus dem Mund. Die notwendigen Dinge sind schon getan. Nur dieses verletzte Wesen liegt mitten auf der Straße und versucht verzweifelt auf die Beine zu kommen. Es lässt sich nicht beruhigen. Es wirft seinen Körper hin und her.

In eine “Blase” eintauchend nähere ich mich dem Tier und nehme Kontakt auf. Kohärentes Atmen, um mit der Situation einen Gleichklang herzustellen und der Versuch, das Tier zu berühren, gelingen mit ein wenig Zeit. Ich werde innerlich ruhig. Das kleine Kitz lässt sich streicheln und beruhigen. Vielleicht ist es auch die Erschöpfung. Immer mal wieder bäumt es sich auf und schreit. Es gelingt ihm, auf den Vorderläufen in den Graben zu robben und sich dort ins schon leicht feuchte Gras niederzulegen. Welch ein Glück! Die Autos können nun wenigstens langsam passieren. Ich verspüre keinen Impuls, weiter fahren zu wollen und bleibe bei meiner inneren Arbeit mit dem Wesen, das sich auf den Weg macht zu sterben. Ich sehe keine Chance. Blut tropft aus dem Mund. Es scheint mehr und mehr erschöpft. Meine Hände liegen auf dem warmen, braunen Fell. Nie zuvor habe ich ein Reh berührt oder gestreichelt. Sein Herz klopft schnell - meines Erachtens - aber gleichmäßig. Es versucht nicht mehr auf die Beine zu kommen, um der Mutter zu folgen.

Ich hocke am Boden im Gras mit einem sterbenden Wesen mit der Gewissheit der Unumstößlichkeit. Um mich herum Menschen, Tränen, Trauer um das Geschehene, Verzweiflung der Autofahrerin, langsam vorbeifahrende Autos mit Menschen, die neugierig schauen. Manche ganz still, manche mit offenem Fenster, um zu fragen, ob sie helfen können oder einfach nur, um ihre Neugierde und Sensationslust zu befriedigen.

Ich bin erinnert an meine Arbeit in der Klinik. Sterben, Verzweiflung und schreiende, laute Menschen - damit war ich oft konfrontiert. Hier ist es so, als ob mir zwei verschiedene Welten begegnen. Die eine ist die Gefühlswelt, in der jeder Einzelne an diesem Ort eintaucht. Konfrontiert mit dem Schicksal eines Rehs, welches die Straße überquert und von einem Auto erwischt wird. Hier erlebe ich Verzweiflung und Drama, Hilflosigkeit und die Erwartung, dass die gerufenen Polizei weiß, wie das Leid beendet werden kann. Die andere Welt ist meine “Blase” mit dem Reh. Diese Welt ist absolut fokussiert auf den Moment. Ich halte den Augenblick des Lebens. Ein Reh wurde angefahren. Das passiert. Es wird sterben. Das ist gewiss. Ich begleite so lange, wie es mir erlaubt ist und beruhige so gut es eben geht. Ich erlebe Traurigkeit aufsteigen. Gleichzeitig aber auch eine Stärke, die nicht dramatisiert sondern erkennt, wie sich das Leben gerade lebt: Ein Tier wurde angefahren. Das passiert. Es wird sterben. Ich bin traurig. Mehr nicht!

Irgendwann ist auch die Polizei eingetroffen. Ich bin etwas verwundert, dass sie das Tier nicht zugleich erlösen. Aber Schusswaffengebrauch hat ganz klare Vorgaben. Wir müssen alle fahren. Niemand darf in der Nähe bleiben. Sicherheitsvorkehrungen! Ich verabschiede mich von diesem kleine, verletzten Reh, welches stumm und ruhig mit regelmäßigem Herzschlag im Graben liegt. Ich sitze ruhig in meinem Auto, fahre still nach Hause. Wenige Kilometer später spüre ich, wie das Reh sich löst von dieser Welt… Daheim komme ich weinend an.

Ich habe mich natürlich gefragt, warum ich in diese Situation geraten bin und habe meine Antwort gefunden:

Es gibt die Gefühle, die aus einer Situation in der Vergangenheit in mir anklingen. Sie sind ein physischer Abdruck dessen, was ich in mir durch eine bestimmte Erfahrungen hinterlegt habe. Diese Erfahrungen wurden in der Tiefe nicht verarbeitet oder transformiert. Etwas Gegenwärtiges versetzt es erneut in Schwingung. Es schwingt sich frei und offenbart sich mir. Diese Gefühle sind oft unverhältnismäßig, dramatisch und der Situation nicht angemessen. Sie klingen an und werden berührt durch ein Erleben in der Gegenwart, entstehen aber aus “Zellerinnerungen” in mir. Sie sind entkoppelt vom gegenwärtigen Geschehen.

Dann gibt es aber diesen einen wahren Moment: die Gegenwart, die sich ohne eine Geschichte der Vergangenheit in mir offenbart. Wenn ich mir erlaube, ganz und gar dort einzutauchen, dann erlebe ich ehrlich, wahrhaftig und authentisch Traurigkeit für einen Moment. Gar keine Frage. Diese Traurigkeit möchte aber an der Situation nichts ändern, nichts retten und keine Hoffnungen schüren, wo keine ist. Diese Traurigkeit ist einfach da. Sie will nichts verändert und anders haben und mündet in ein Gefühl von “ich halte den Augenblick des Lebens”! Es ist eine vollkommene Akzeptanz dessen, was gerade passiert ist, ohne ausweichen zu wollen. Nichts in mir schreit, dass es anders sein sollte. Diese Traurigkeit akzeptiert den Weg des Rehs, den es geht und hält gleichzeitig den Raum, dass es ruhig diesen Weg gehen kann. So habe ich es erlebt. Es ist ein Gefühl, das unmittelbar aus dem Moment in mir geboren wird und in diesem Augenblick auch in mir verarbeitet wird. Es überlebt nicht nachhaltig in mir und setzt sich über Tage hinweg fort, da ich einfach einverstanden mit dem war, was das Leben vor meinen Augen lebt.

Es ist gar nicht so leicht, dieses unterschiedliche Erleben in Worte zu fassen. Ich beschäftige mich seit ein paar Wochen damit und erfahre - ganz neu übrigens - in mir die Kraft der wahren, echten Gefühle im gegenwärtigen Moment. Und das fühlt sich anders an als Gefühle zu fühlen, die ich schon lange mit mir trage und in einem Moment durch eine bestimmte Situation reaktiviert werden. Der gegenwärtige Moment vermittelt Gefühle, die Informationen sind. Sie sind zum Beispiel Informationen meiner Klarheit, meiner Liebe. Sie sind groß, wichtig und heilig. Sie sind frei, bewegen sich zischen Himmel und Erde und entsprechen der gegenwärtigen Situation.

Vielleicht gibt es Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen und den Unterschied in sich entdecken. Ich beobachte mich und lerne mich da gerade neu kennen. Das Leben schenkt mir Situationen, in denen ich mich beobachten kann, um wirklich in die Unterscheidung beider Aspekte der Gefühlswelt eintauchen zu können.

Im Gespräch mit meinem Mann sagte ich den Satz: Ich halte den Augenblick des Lebens! Und das trifft es auf den Punkt. Ich erlaube mir ganz frei zu fühlen, was auch immer in dem Moment gefühlt werden möchte. Ich entwickle ein Vertrauen, dass es echt und angemessen ist und im selben Moment verarbeitet und transformiert werden kann. Ich “halte den Augenblick” bedeutet, den Moment in meine geöffneten Hände zu legen. Sie sind nicht geschlossen, sie wollen nichts festhalten. Sie erlauben dem Leben eine Eigendynamik mit vollkommenen Einverständnis. Aus der Schattenarbeit kennen wir ein ähnliches Bild: Indem wir den Schatten zu uns nehmen und integrieren, öffnen wir unsere Hände und ein dort sitzender “Vogel” kann nun ganz frei entscheiden, ob er fliegt oder bleibt oder was auch immer in dieser entstehenden Dynamik passiert. Das Bild ist ein “Bild von gewonnener Freiheit” und trifft es so gut!

Ich bin diesem kleinen, braunen warmen Rehkitz unendlich dankbar. Es war mir ein Lehrer auf meinem Weg. Und ich bin bereit, mich weiter auf diesen Weg einzulassen, mehr im jetzigen Moment zu leben als in meiner Vergangenheit oder Zukunft zu verweilen. Leichtigkeit und Frieden halten dadurch Einzug in meinem Herzen, Tag für Tag. Und doch ist es herausfordernd. Aber immer lohnenswert wie ich ehrlicherweise über die Zeit feststellen darf!

Möge auch das Reh seinen Frieden gefunden haben!

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